Eine Liebeserklärung an Greyhounds

Zu der Zeit hatten wir bereits eine irische Greyhündin und einen kleineren Galgo-Whippet-Rüden aus Spanien. Seit wir 1996 den ersten Windhund völlig nichts ahnend adoptierten, tat sich vor uns der Abgrund der Greyhound-Mißhandlungen – ausbeutungen auf den Rennbahnen Irlands und Spaniens auf, in den wir immer mehr und mehr Einblick bekamen.

In Freiburg heil angekommen fuhr ich zum Windhund-Stadion hinaus, wo die lange Reise der Hunde von Mallorca über spanisches Festland und Frankreich endete. Im Vereinsheim des Freiburger Windhundstadions konnten sich die Hunde von der strapaziösen Fahrt von über 18 Stunden ausruhen, sich die Beine vertreten auf dem rundum gesicherten Gelände.
Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Wusste nicht, in welchem Zustand die Hündinnen waren und hatte auch gemischte Gefühle, wie ich emotional reagieren würde auf etwaige schlimme Verletzungen oder kranke Hunde.

Im Arm einige frisch gewaschene Decken, Leinen und Halsbänder, die ich für die Hunde mitgebracht hatte, ging ich am Transporter der Hunde vorbei auf die Tür der Vereinsgaststätte zu und öffnete sie vorsichtig.
Es war ganz ruhig in dem großen Raum. Nichts erinnerte momentan an den Gastraum mit den vielen Tischen und Stühlen und geselligem Treiben, Die Stühle hatte man gestapelt und beiseite gestellt. . Einige Windhundfreunde hatten sich schon eingefunden und betreuten und beschmusten die Hündinnen mit ruhigen liebevollen Worten. Fast alle Hunde lagen auf den für sie völlig unbekannten luxuriösen weichen Decken und ließen sich verwöhnen. Jemand hatte ein kleines Kinderfeldbett mitgebracht samt einem großen Daunenbett auf dem sich eine kleine schwarze Hündin niedergelassen hatte.Wir schmunzelten über ihre Hartnäckigkeit, denn auch nach Stunden weigerte sie sich, aus diesem Wirklichkeit gewordenen Traum aus Wärme und Weichheit zu erwachen und sich zu erheben. Sie konnte einfach nicht genug bekommen nach einem Leben auf harten, feuchten Betonböden in den engen Boxen.

Auf dem Rennbahngelände lag ebenfalls Schnee und einige der Greyhündinnen tobten in dem für sie wahrscheinlich unbekannten weißen kalten Pulver umher. Es war ihnen so wenig vertraut und bekannt wie ein fröhliches unbeschwertes Dahinschlendern und Schnuppern, was ausgiebig genutzt wurde auf dem sicher eingezäunten und abgeschlossenen Rennbahngelände.

Ich saß immer wieder inmitten der Hunde, unfähig etwas bestimmtes zu tun. oder etwas anzupacken Die Eindrücke waren so stark, die Präsenz und die Atmosphäre in diesem Raum so einnehmend, dass ich einfach nur still dasitzen und beobachten konnte. Dabei zog eine große, schmutzig weiß-gelbfarbene und mächtige Hündin meine Aufmerksamkeit auf sich. Sicher war sie einstmals so weiß gewesen wie der Schnee, der draußen fiel.
Sie war vollkommen verdreckt, genauso wie die anderen Hunde auch. Und natürlich stanken sie auch ordentlich.

Das Fell gelb und orange überall, der Schwanz fast haarlos. Man konnte jeden einzelnen Wirbel bis zum Ende hinab zählen. Am ihrem Bauch hing ein ca. 1,5 cm starker und ca. 10 cm langer Hautlappen herunter. Diese Hautirritation rührte her von dem jahrelangen Liegen auf hartem Boden. An einer ihrer Pfoten ragte die äussere Zehe – ausgekugelt oder gebrochen – weit ab nach außen.
Ein erschreckendes Bild, das sich für immer in meinem Gedächtnis festgesetzt hat. Dennoch, diese Hündin hatte eine solche Gelassenheit, Stärke und Würde derer ich mich überhaupt nicht mehr entziehen konnte.
Ich hatte nur noch Augen für sie und hielt mich an ihrer Seite. Sie nahm mit genussvollem Gesichtsausdruck meine Schmusereien entgegen. Trotzdem hatte sie sich im Gegensatz zu manch anderen Hündinnen niemand bestimmtem angeschlossen. Außer dem Fahrer, der seine kostbare Fracht von ca. 20Greyhündinnen von Mallorcas Rennbahn über Spanien und Frankreich gefahren und sicher abgeladen hatte. Dieser mochte sie wohl sehr und ich sah seine große Liebe und eine unglaubliche Leichtigkeit, mit der er diese große Hündin etwas ungelenk und derb-liebevoll auf seinen Schoß zog und ihr irgend etwas spanisches lächelnd ins Ohr flüsterte. Sie hing da,. Umarmt auf den Knieen dieses Tierfreundes und man musste einfach lachen über ihren Gesichtsausdruck. Er sprach sie mit „Arcopal“ an. Diesen Namen hatte sie also in Spanien bekommen. Ich fand ihn sehr passend.

Dieser Hündin wollte ich eine Heimat geben, ihr zum ersten Mal Sicherheit, Geborgenheit und lebenslange Versorgung bieten.. Wie ich das meinem Mann beibringen sollte, wusste ich noch nicht. Ich malte mir sein Gesicht aus, wenn ich mit diesem stinkenden, schmutzig-gelben und kranken Hund zuhause auftauchen würde und mich beschlich kurz ein gewisses Unbehagen. Ich schob es beiseite. Solche lästigen Gedanken konnte ich jetzt nicht brauchen, es wird sich wie immer eine Lösung finden. Später mal.

Es trafen immer mehr Leute ein. Alles Windhundfreunde, die davon gehört hatten, dass ein Transport von mallorcinischen Rennbahnhunden Rast macht im Windhundstadion. Alle Hunde standen unter dem Schutz einer schweizerischen Tierschutzorganisation, auf deren Helfer und Mitglieder sich die Hunde verteilten und die auch allesamt gekommen waren. Sie holten die Hunde ab, einige nahmen sogar zwei und drei Hündinnen auf einmal zu sich nachhause.

Bei den Organisatoren dieses Transports meldete ich Interesse an Arcopal an. „Erst einmal kommt sie auf eine Pflegestelle in die Schweiz“, hieß es. Wohin, steht noch nicht fest. Arcopal muß erst einem Tierarzt vorgestellt werden, sie wird wie alle Tierschutzhunde kastriert und behandelt, wo es nötig ist.. Ich soll mich dann halt durchfragen.
Die Heimfahrt fiel mir schwer. Ich war traurig, dass ich mich schon wieder von Arcopal trennen musste, wo ich sie gerade vor drei Stunden erst gefunden hatte und alles doch sehr Ungewiss war.
Die nächsten Tage kreiste meine Gedankenwelt immer darum, Arcopal wiederzufinden und ich beschloß nach ca. 14 Tagen, nun mit der Suche nach ihr zu beginnen.Die paar Fotos, die ich von ihr gemacht hatte an jenem Tag ihrer Ankunft, schleppte ich überall mit mir herum. Es war das einzige was ich von ihr hatte. Ich sprach zu ihrem Foto und wusste, sie würde es irgendwie spüren, dass da jemand an sie denkt und wartet.

Meine Suche war sehr schnell erfolgreich und ich konnte ein wunderbares, langes Telefonat führen mit ihrer Pflegemama. Ihr bin ich noch heute dankbar, dass sie soviel Arbeit und Aufwand auf sich genommen hat um Arcopal zu pflegen. Sie schickte mir Fotos von der frisch operierten Hündin, die sie umbenannt hatte in Abba, nach dem legendären Popquartett aus Schweden. Die Fotos öffneten erst einmal alle Schleusen in mir und unter Tränen der Rührung betrachtete ich meinen zukünftigen Hund. Gleichzeitig begann nun eine wunderbare Zeit des Wartens, bis sie endlich, endlich zuhause war bei uns.

Neue Fotos von der Pflegestelle nach der OP zeigten eine strahlend weiße und umwerfend schöne Hündin. Ich konnte einfach nicht glauben, dass eine solche Wandlung möglich war. Nur 4 Wochen Pflege, Sauberkeit und ein bequemes, trockenes Liegebett hatten diesen Hund komplett verwandelt. Mir wurde schmerzhaft bewusst, wie miserabel und katastrophal die Haltung der Greyhounds in Spaniens Rennbahnen sein musste und wie viele von ihnen noch leiden und ausharren mussten ohne je Geborgenheit, Zuwendung und Respekt erlebt zu haben.

Bis Abbanah – so nannten wir sie - richtig genesen war von ihren Operationen und endlich zu uns kam, vergingen noch viele Wochen, insgesamt war sie von Mitte Februar bis genau 10. Mai in der Pflegefamilie. Ich wusste sie gut aufgehoben. Es war unser aller Wunsch, sie erst dann umzusiedeln, wenn sie vollständig gesund war. Dann kam der Tag, an dem wir in die Schweiz fuhren, um sie abzuholen. Mein Mann - längst überzeugt, dass wir diesem Hund eine Heimat geben müssen – war sehr begeistert, als er Abbanah zum ersten Mal sah. Sie war so weiß wie ein Schwan und ebenso edel, aber so stark und für eine Hündin riesengroß mit einer Schulterhöhe von nahezu 70 cm. Was für ein Hund!!! Wie schon einmal haute sie mich einfach um. Wieder mal flossen die Tränen reichlich wie so oft in dieser Zeit. Ich war überwältigt von Wiedersehensfreude und Aufregung.

Die Trennung von ihrer Pflegefamilie und Ankunft hier machte Abbanah keine Probleme. Ich fürchtete, sie würde ihre Bezugsperson in der Schweiz vermissen und daß ihr wir durch die Trennung seelischen Kummer zufügten. Nichts dergleichen geschah jedoch. Ich spürte , dass dieser Hund in den letzten Jahren lernte, sich an niemanden zu binden. Lange Jahre des stumpfsinnigen Daseins eines spanischen Rennhundes ohne Ansprache, ohne geistige Forderung hinterliessen ihre Spuren.


Es wechselten die Betreuer eh ständig, die Aufenthaltsorte ebenfalls. Sie wurde durch die Gegend gekarrt, egal ob es kalt und nass war oder ob sie stundenlang bei 50 Grad im Transporter warten musste, um für 30 Sekunden hinter einer vermeintlichen Beute herzujagen und dafür Kopf und Kragen zu riskieren. Tag für Tag und Jahr für Jahr lebte sie in engen Boxen ohne Decke, auf nassen stinkenden Betonböden. Unvorstellbar!
Wer diese Hölle überlebte, musste sehr stark sein

Abbanah nahm überall die Zuwendungen und Huldigungen entgegen und genoß Umarmungen und Streicheln in vollen Zügen. Ohne dass sie aber diese einforderte. Es war ihr genug, wenn alle lieb und freundlich mit ihr waren. Ihre Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit rührte mich und bescherte mir den bekannten Kloß im Hals. Sie war einfach nur zufrieden und lag mit unseren anderen Hunden in der warmen Frühjahrssonne auf unserer Terrasse. Ich kann die tiefe Befriedigung, innere Ruhe und das Glück beim Betrachten dieser einst so geschundenen Hunde nur schwer in Worte fassen.


Wir fanden heraus, dass sie über 10 Jahre alt war als sie die Rennbahn von Mallorca verließ. Als ich noch gar nichts wusste von Renngreyhounds und deren Ausbeutung, geschweige denn ahnte, dass mich diese Hunde nie mehr loslassen würden, lief sie 1990 bereits ihre ersten Rennen. Ich glaube noch heute, viele Jahre nach ihrem Tod, dass wir beide all die Jahre unseren Weg gingen und auf uns warteten.
Sie durchlebte die Zeit zwischen mehreren Rennbahnen Irlands und Spaniens. Während ich begann, mich für die Greyhounds einzusetzen nachdem die Fassungslosigkeit der Entschlossenheit wich.

Wir erlebten 3 wunderbare Jahre mit Abbanah. Sie war mein ganzer Stolz und sie alterte mit viel Würde.
Im Januar lief sie sehr schlecht und als wir sie untersuchen ließen, erfuhren wir, daß in Abbanahs Schulter ein Knochentumor wucherte. Die Diagnose war verheerend für uns. Bei Knochenkrebs ist die Prognose sehr negativ und wir wurden uns bewusst, daß unsere Zeit mit Abbanah von nun an kostbar war und begrenzt.

Die Krankheit zeichnete Abbanah sehr schnell.Sie wurde schwächer und wir erlebten die Tage immer in der Gewissheit, sie zu erlösen, wenn wir ihr die Schmerzfreiheit nicht mehr garantieren konnten.
Während der letzten zwei Tage und Nächte an ihrer Seite spürte ich, daß die Zeit gekommen war und wir das Versprechen einlösen mussten, sie nicht leiden zu lassen,. Ein unvergessener, sehr schwerer Tag im Januar 2002, an dessen Abend sie sanft, geliebt und wohlbehütet in meiner Umarmung starb.

Wir begruben sie in unserem Garten.
Im Sommer pflanzte ich auf ihrem Grab eine weiße Rose für den weißen Hund. Frühjahr um Frühjar verging. Die Rose lebte , wuchs und wurde älter , aber sie blühte nicht.

Ich wartete geduldig bis plötzlich nach 6 langen Jahren die ersten Knospen erschienen. Ihre Blüten waren umwerfend schön, weiß und stark.

Siggi Schulz